Seit einiger Zeit setzen sich viele Eltern insbesondere in den Sozialen Medien für einen bestimmten Erziehungsstil ein: Bindungsorientierte Erziehung. Doch was steckt hinter dem Begriff? Wie funktioniert bindungsorientierte Erziehung? Wir klären dich auf.

Bindungsorientierte Erziehung, oder auch: Attachment Parenting

Bindungsorientierte Erziehung als Erziehungsstil wurde seit den 90er Jahren von verschiedenen Wissenschaftlern unter dem englischen Begriff „Attachment Parenting“, kurz AP, geprägt, unter anderem vom amerikanischen Kinderarzt Dr. William Sears und seiner Frau Martha Sears, die einen Eltern-Ratgeber darüber verfassten. Bindungsorientierte Erziehung ist kein neues Konzept und auch kein Trend, sondern stützt sich auf intuitive Verhaltensweisen, die in der gesamten Menschheitsgeschichte in verschiedenen Kulturen in der Kindererziehung wiederkehrten.

Das Konzept der bindungsorientierten Erziehung besteht darin, dass die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt stehen – daher auch der häufig verwendete Begriff „bedürfnisorientierte Erziehung“. Eltern sollen auf ihren Säugling stets liebevoll eingehen und seinen Bedürfnissen nach Nahrung, Wärme und Geborgenheit nachgehen. Dadurch soll die Eltern-Kind-Bindung gestärkt und das Baby emotional gefestigt werden.

Gleichzeitig sollen sich Eltern mit diesem Konzept von dem Gedanken lösen, das Baby habe nach elterlichen Vorstellungen zu „funktionieren“ und man müsse es bereits im ersten Lebensjahr „trainieren“, sodass es den Eltern nicht auf der Nase herumtanzt. Laut Sears soll die bindungsorientierte Erziehung helfen, sein Kind besser zu verstehen, sein Wohlbefinden zu garantieren und das Elternsein zu genießen.

Grundregeln der bindungsorientierten Erziehung

Wie bereits erwähnt, steht das Kind bei der bindungsorientierten Erziehung im Mittelpunkt. Das ist am Beispiel einer typischen Schlafsituation einfach erklärt:

Es ist spät am Abend und das Kind soll schlafen gehen.

  • Erziehungsmethode, bei der der Willen der Eltern im Vordergrund steht: Die Eltern machen das Kind jeden Tag zur selben Zeit bettfertig und legen es ins Bett – ob müde oder nicht, schließlich ist nun Schlafenszeit. Wenn das Kind dann noch nicht schlafen kann und protestiert, kann es zu einer Stresssituation kommen.
  • Bindungsorientierte Erziehung, bei der das Kind im Mittelpunkt steht: Die Eltern achten auf die Zeichen des Kindes: Wenn es nicht müde ist, muss die Schlafenszeit womöglich etwas nach hinten verschoben werden, um unnötigen Stress zu vermeiden.

Das Ehepaar Sears stellt in seinem Ratgeber sieben Richtlinien für eine bindungsorientierte Erziehung vor:

Bonding ab Geburt

Intensiver Körperkontakt direkt nach Geburt des Kindes ist wichtig, um dem Baby Geborgenheit zu schenken und den Start in das Leben zu erleichtern.

Stillen nach Bedarf

Stillen fördert eine enge Mutter-Kind-Bindung und versorgt das Baby mit allen Nährstoffen, die es benötigt. Anstatt sich an festgelegten Zeiten zu orientieren, soll die Mutter das Kind stillen, wann immer es das möchte und einfordert. Auch die Stilldauer wird nicht begrenzt.

Schlafen im Familienbett

Das Schlafen im gemeinsamen Bett, direkt neben der Mutter, erleichtert nächtliche Fütterungszeiten. Das Baby kann einfach nach Bedarf gestillt werden und Mutter und Kind finden schnell wieder in den Schlaf. Zudem fühlt sich das Baby durch die Nähe der Eltern sicher und lernt, dass es keine Angst vor dem Schlafen und der Dunkelheit haben muss.

Das Tragen des Babys

Durch das häufige Tragen erfährt das Baby die unmittelbare Körpernähe seiner Eltern. Das beruhigt das Kind und stärkt die Bindung zu den Eltern. Es weint seltener und schläft ruhiger, wodurch sich der Stresslevel aller Familienmitglieder reduziert.

Hier erfährst du, worauf du beim Tragen des Babys in einer Tragehilfe achten solltest.

Schnelles Reagieren auf das Weinen des Babys

Das Weinen und Schreien des Babys sollten Eltern nicht ignorieren und als Manipulation des Kindes auslegen, sondern sie sollten schnell darauf reagieren und den Grund dafür herausfinden. Das helfe den Eltern, ihr Kind besser zu verstehen.

Vorsicht vor „Baby-Trainings“

Im Sinne der bindungsorientierten Erziehung, die die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund stellt, warnen die Erziehungswissenschaftler vor Trainings wie Schlaflernprogrammen für Babys oder festgelegten Stillzeiten. Nur die Eltern selbst sind Experten für ihr Kind und sollen sich nicht von einem vorgegebenen Plan verunsichern lassen und das Urvertrauen des Babys durch umstrittene Trainingsmethoden erschüttern.

Die Balance im Familienleben finden

Auch wenn die Bedürfnisse des Babys im Vordergrund stehen, sollte das eigene Wohl und die Partnerschaft nicht vernachlässigt werden. Mit der Zeit werden Eltern durch bindungsorientierte Erziehung eine Balance im Familienleben finden.

Eine Familie aus Mutter, Vater und Baby kuscheln zusammen auf dem Bett.
Bindungsorientierte Erziehung soll zu einem entspannteren Familienleben führen. © Boggy – stock.adobe.com

Vorteile der bindungsorientierten Erziehung

Ein wesentlicher Vorteil, den die bindungsorientierte Erziehung aufweist, ist das Reduzieren von Stress. Alle neuen Eltern kennen das Gefühl, wenn der Puls hochgeht, weil das Baby schreit. Intuitiv möchte man das Kind beruhigen und soll diesem Gefühl in der bindungsorientierten Erziehung auch stets nachgehen.

Studien haben gezeigt, dass bedürfnisorientiertes Verhalten – wie das Tragen und Liebkosen des Kindes – den Stresslevel von Eltern und Kind senkt.

Darüber hinaus fördert eine bedürfnisorientierte Erziehung die sichere Bindung von Eltern zu ihrem Kind.

Kritik an bindungsorientierter Erziehung

Für moderne Familien, in der sich Mutter und Vater gleichermaßen die anfallenden Aufgaben teilen, ist eine bindungsorientierte Erziehung, die genau den vorgegebenen Richtlinien folgt, meist nicht ohne Weiteres umsetzbar. Das beginnt bei Müttern, die nicht stillen möchten oder können, geht über Väter, die aufgrund der engen Bindung zwischen Mutter und Kind außen vor sind, bis hin zu Familien, die insgesamt schlechter schlafen, wenn das Kind im gemeinsamen Bett liegt.

Wie die ZEIT berichtete, kann der Erziehungsstil zudem ideologische Ausmaße annehmen. Tragen und Stillen wird so aggressiv beworben, dass Eltern schnell verunsichert sind. Ist es nun schlimm, wenn ich nicht tragen kann oder möchte? Was, wenn das frühe Bonding aufgrund von Komplikationen bei der Geburt gar nicht möglich war? Was mache ich, wenn mir alles zu viel wird und ich Zeit für MICH einfordere? Macht mich das zu einer schlechten Mutter?

Darüber hinaus werden die Richtlinien der bedürfnisorientierten Erziehung von vermeintlichen Verfechtern des Erziehungsstils oft um Maßnahmen ergänzt, die damit nichts zu tun haben, so die ZEIT weiter. Dazu gehören das Wickeln mit Stoffwindeln, Baby-Led-Weaning und sogar selbstbestimmte Geburten und das Kritisieren wichtiger und bewährter Schutzimpfungen.

Richtlinien an das eigene Leben anpassen

Es ist hilfreich, die Leitsätze der bindungsorientierten Erziehung als Orientierung für das eigene Familienleben zu betrachten und die Dinge so umzusetzen, wie sie individuell möglich und für einen selbst wichtig sind – ohne Zwang und ohne Druck. Dazu gehört, in gewissen Situationen auf sein Bauchgefühl zu hören und sich dessen bewusst zu sein, dass nur du selbst genau weißt, was dein Kind benötigt. Genauso wichtig ist es, auf das eigene Wohlbefinden zu achten und ohne schlechtes Gewissen eine Pause einzufordern, wenn du sie brauchst.

Quellen

Miller, P. M., & Commons, M. L. (2010). The benefits of attachment parenting for infants and children: A behavioral developmental view. Behavioral Development Bulletin, 16(1), 1-14.
AskDrSears: Attachment Parenting Babies
ZEIT Online: Auf welcher Seite erziehst Du?

Über den Autor

Julia May

Hi! Ich bin Julia und seit 2018 Mama eines aufgeweckten Jungen, der meine Welt manchmal ganz schön auf den Kopf stellt. 2022 gesellte sich mein zweites Söhnchen hinzu und gemeinsam erleben wir den trubeligen Alltag einer vierköpfigen Familie. Meine Erfahrungen teile ich mit dir in zahlreichen Artikeln rund um Kindererziehung, Schwangerschaft und Gesundheit und gebe bewährte und hilfreiche Tipps, die deinen Familienalltag erleichtern.

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